Montag, 5. August 2013

Auflösung: Ein Relikt alten Aberglaubens mit eigenen Augen entdeckt

Der Heerwurm - eine wunderliche Erscheinung

Vor einigen Tagen bin ich wieder einmal in den Bachtälern des Frankenwaldes mit Poldi Gassi gegangen. Bei der Hitze sind diese Wanderwege einfach herrlich. Voller Freude sah ich auf einmal auf dem Weg eine riesige "alte Schlangenhaut" liegen. Ich erhoffte mir einen Hinweis auf Kreuzottern. Nur in meiner Kindheit sah ich welche, die sich allerdings immer sehr schnell verzogen. In den letzten zwanzig Jahren konnte ich weder eine entdecken noch fotografieren und so eine Schlangenhaut wäre ein kleiner Fingerzeig, dass sie nicht ganz verschwunden sind.

Als ich näher kam, merkte ich, dass die "Haut", die immerhin knapp 1,50 m lang war viel größer war, als ursprünglich gedacht. Sie bewegte sich zudem und bei näherer Betrachtung zeigte sie sich als Prozession von "Raupen" oder "Larven". Sie zogen geordnet zu mehreren Tausenden auf-, über- und untereinander ihren Weg. Da sie sehr feucht und gläsern durchscheinend waren, hatten sie keine Gemeinsamkeit mit den bekannten Prozessionsspinnerraupen.

Dieser kleinere Heerwurm war etwa so dick wie ein Bleistift.

Die einzelne Made ist nicht größer gewesen als eine Fichtennadel, um so mehr erstaunt einen die Länge der Prozession. Vier Finger breit war das Gebilde an der dicksten Stelle und am Ende hängen nur noch einzelne Maden. In der Höhe kamen sie über 2,5 cm nicht hinaus. Die hinteren Maden speicheln die vorderen ein, so dass die einzelnen Tiere nicht austrocknen. Ein geleeartiges Wallen und Winden, das sich in stetiger Fortbewegung nicht nur nach vorne bewegt, sondern auch in sich stets in Rotation ist. Bei dem ständigen Gewimmel kriechen sie - angesichts der Größe - recht zügig vorwärts.
Die größten Heerwürmer, die je beobachtet wurden, waren über 3,50 m lang. "Meiner" war zwar nicht rekordverdächtig, aber dennoch beeindruckend - vielleicht für manche auch unheimlich -was die vielen Sagen um diesen "Heerwurm" erklären lässt.

Wie viele Tiere mögen es wohl  in dem kleinen Abschnitt sein? 


Früher glaubte man beim Erblicken dieser Ansammlung, dass Krieg aufziehen würde, was allerdings nur ungenügend die Namensgebung erklärt. Diese Maden nennt man nämlich "Sciara militaris". Letztendlich erinnerte diese silbergraue, Glied an Glied dahinziehende Ansammlung von Larven an einen Kriegszug voller Soldaten. Wann der Krieg aufziehen sollte, Missernte oder Erntesegen bevorstand, mancherorts ein Todesfall "sich ankündigte", entschied jede Region für sich. Man findet Unmengen an Erzählungen die das seltene Erscheinen und den darauf folgendem Kriegsbeginn zusammenbringen. Die jeweiligen Richtungen der Prozession: Weg aufwärts, abwärts, links, rechts, geradlinig oder zerteilt und gewunden ... all das hatte Bedeutung und würde hier glatt den Rahmen sprengen.
In Thüringen legte man den Tieren Kleidungsstücke entgegen. Nahmen die Maden den Weg über das Kleidungsstück, so wurden Unfruchtbare fruchtbar, Schwangere hatten eine leichte Geburt und bei einem Todkranken, dessen Kleidung nicht verschmäht wurde, konnte man auf Genesung hoffen. Mied der Wurm das Kleidungsstück stand der Tod ins Haus.

Der "Kopf" der Madenprozession - ungefähr vier Finger breit

M. Schlenzig schrieb 1864, dass in waldreichen Mittelgebirgsregionen, in Schweden und Skandinavien der Heerwurm bekannt war, andernorts aber noch nicht, aber auf die Frage nach dem Heerwurm wurde sofort die Phantasie der Leute angeregt, die sich Vielerlei darüber ausmalten. Menschen suchten eine Verbindung zu den ihnen aus Geschichten bekannten "Würmern" wie Tatzelwurm oder Haselwurm und das sorgt heutzutage für Verwirrung, denn oftmals werden die verschiedenen Namen einfach übernommen ohne sich näher mit den einzelnen "Tiergestalten" zu beschäftigen. Ich denke, deshalb vermischen sich ab den 19. Jahrhundert viele Beschreibungen und die jeweilige Mythologie  solcher Wesen. Durch das Erscheinen der Zeitungen in dieser Zeit, konnten Berichte wundersamer Gestalten weit über die Lande hinweg verbreitet und in Umlauf gebracht werden und durch mündliche Weitergabe an andere wurden manche Dinge einfach auf Bekanntes übertragen.

Ein Heerwurm ist kein Hasel- oder Tatzelwurm

Mit dem Tatzelwurm und dem Haselwurm hat der Heerwurm keine Verbindung. Der Tatzelwurm wird in alten Büchern eher als sehr große, dicke bis zu 1,50 m lange schlangenartige Kreatur beschrieben, ähnlich wie die großen Skinkarten, es sollen kurze Beine sichtbar sein. Ein weiterer Name wäre Springwurm, was vielleicht auf die Funktion der Beine hindeutet. Dieser Tatzelwurm wäre angriffslustig Mensch und Tier gegenüber, manche sprechen von drachenartigem Verhalten mit bösem Blick und der Fähigkeit Rauch und Feuer zu speien. Dies könnte auch die Verbindung zum skandinavischen "Wurmdrachen" sein.

Der Haselwurm dagegen kommt zwar ähnlich wie der Heerwurm aus der Erde gekrochen, allerdings spricht man ihm eher gute Eigenschaften zu. In alten Berichten steht, dass der Haselwurm von weißlicher Gestalt ist und wie ein "gewickelter Säugling" aussehen würde. Mancherorts hätte man auch ihn bei Sichtung erschlagen und aufgehängt .Andernorts schreibt man, wer sein Fleisch isst, der bekäme die Fähigkeit, die Sprache der Tiere und Pflanzen zu verstehen. Der bekannteste Mensch, der dies getan haben soll, war Paracelsus. Die Methode "Stück abschneiden und zubereiten" würde man beim Heerwurm nicht anwenden können und auch das Aufhängen gelänge kaum bei aneinander hängenden Maden. 

Ich hätte ja - rein wissenschaftlich - überprüfen können, ob manche Aussagen zutreffen. Wenn ich einen Teil des Heerwurmes gegessen hätte *würgs*, hätte ich das Wissen, ob man auch nach dem Genuss dieses Wurmes man vielleicht die Sprache der Tiere und Pflanzen verstehen kann. 

Dschungelcamp im Frankenwald - Wäre es ein
Haselwurm sollte man sein "Fleisch" essen!
Wenn  man ihn erblickt, könne man die Sprache
 der  Pflanzen und Tiere verstehen.
Doch es bleibt ein Heerwurm.

Schlenzig schrieb in seinem Bericht, dass er sich  in Sonneberg und Coburg (ca. 25 km - 50 km von mir entfernt) aufgehalten hatte und nur eine einzige alte Frau ihm Auskunft geben konnte. Der Name Heerwurm sagte ihr nichts, aber sie hätte einmal eine entsetzlich lange Schlange gesehen, hätte den Mut gehabt, diese an mehreren Stellen zu zertreten, fürchtete sich aber schrecklich, als sie sah, dass die Schlange vor ihren Augen wieder zusammenwuchs. Vor lauter Angst über dieses Erlebte betrat sie den Weg lange Zeit nicht mehr.
Dieses Verhalten der Maden kann ich bestätigen. Nachdem ich den Heerwurm gesehen hatte, fuhr ich nach Hause, suchte erstmal nach dieser Tierart und las einiges zu dem Thema. Maximilian Sita Nowicki schrieb ein sehr ausführliches Buch über den "Kopaliner Heerwurm", der in Fichtenbeständen anzutreffen ist. Er merkte an, dass der Heerwurm keinen "Anführer" hat, sondern, dass die Maden - sobald sie sich an anderen anhängen - sich vollkommen auf den "Kopf"  ihrer Prozession verlassen. Würde man einen Ring formen, würden sie sich zu Tode laufen, da die ersten Tiere über eine Rast oder den weiteren Wegverlauf entscheiden. 

Eine Made läuft immer einer anderen hinterher, so kann man
Ringe bilden, die immer weiter kreisen.


Wenn man die "Schlange" trennen würde, würden sie wieder zueinander aufschließen und gemeinsam weiter ziehen. Ob sie dann wirklich im Kreis laufen, wollte ich sehen und so ging ich am nächsten Tag wieder an die Stelle und suchte nach den Larven. Man findet sie recht schnell wieder, denn wo sie entlang zogen, bleibt eine schwarze Spur, wie feiner Schnupftabak oder verbrannte Erde zurück. 

Der Heerwurm hinterlässt "verbrannte Erde".

Was ich fand frustrierte mich total. In der Nacht hatten Wildschweine den gesamten Weg aufgewühlt und dabei den größten Teil der Maden aufgefressen. Ich musste den aufgeworfenen Boden genauer beobachten, da die Spur nicht mehr zu sehen war. So fand ich alsbald kleinere Prozessionen, die versuchten aufeinander zu zu kriechen und sich zu verbinden. Können sich die Tiere riechen? Wie finden sie so zielsicher zueinander? Eine kleinere Ansammlung hielt ich für geeignet, um auszutesten, ob die Tiere wirklich einen Ring bilden und diese Formation beibehalten.



Es klappte ganz gut, wie man im Video sehen kann, bis eine andere Prozession vorbei zog, das sorgte für Irritation, es entstand Durcheinander und manche Maden brachen aus, bildeten dabei einen neuen Zug, um anzuschließen und die bestehende Prozession zu vergrößern.

Hier entdeckten Maden einen anderen Heerzug und lösten
ihre Formation auf, um sich der größeren Gesellschaft anzuschließen.

Welche Tierart verbirgt sich aber hinter diesen Maden? Es sind die Larven von Trauermücken! Sie fressen Laub und Fichtennadeln und scheinen auf der Suche nach besseren Futterplätzen sich zusammenzuschließen und auf Wanderschaft zu gehen. Sie brauchen es schattig, leicht feucht, vertragen aber weder Nässe noch Trockenheit. Manchmal verpuppen sich einzelne Larven noch im Wanderstadium, doch meistens verkriechen sie sich, spinnen sich ein und wenn sie geschlüpft sind, sieht man die Schwärme der kleinen Mücken. Nach drei Tagen ist allerdings keine Trauermücke mehr am Leben. Sie paaren sich nach dem Schlupf, legen Eier und sterben ab. Hier sieht man noch einmal den Heerzug im Detail in Aktion:




Ich weiß, der Post wurde viel zu lang, deshalb den Lesern - die es bis hierher geschafft haben - ein herzliches Dankeschön!  Meinen neuen Lesern hier im Blog ein riesengroßes "Willkommen"! Nicht böse sein, wenn ich nur sporadisch antworte, irgendwann werde ich wieder mehr Zeit haben.

Die Körper der Trauermückenlarven sind gläsern, durchsichtig,
nass, schleimig, feucht - nicht gerade appetitlich, oder?

Weitere Videos zum Anschauen, falls ihr Interesse an diesen Tieren gefunden habt.:
Deutschland -> sehr langer Heerwurm



12 Kommentare:

  1. Danke für diesen interessanten Post!

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  2. Ich finde diese Maden ehrlich gesagt einfach eklig, war aber trotzdem sehr gespannt, was denn des Rätsels Lösung ist.
    Mein Respekt, wie Du beobachtet und Dich damit beschäftigt hast. Das ist ja schon richtig wissenschaftlich.
    Ich glaube, Du verstehst die Sprache der Tiere und Pflanzen auch ohne ihren Verzehr schon recht gut.
    Das Verhalten dieser Tiere finde ich sehr spannend und werde noch einen Moment lang "darauf herumkauen"
    Vielen Dank für diese wirklich interessante Vorstellung
    Liebste Grüße von Joona

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  3. Danke dir für diesen so interessanten Bericht über diese Würmer
    liebe Grüße
    Hermine

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  4. Whow...das ist ja hochinteressant!
    Schon dein Rätsel konnte ich nicht lösen, und ich
    danke dir für diese interessanten Einblicke.
    Was es nicht alles gibt!
    liebe Grüße!

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  5. Wow... widerlich.. aber irgendwie sooo faszinierend.. Tolle Bilder!!! Wusste nciht dass es so etwas gibt und bin auch noch nie etwas Ähnlichem begegnet.. Siehst du das öfters? So interessant.. Hab trotzdem ne Gänsehaut gekriegt bei sovielen Kriechtieren auf einem Haufen.. Genial!

    Magst du dich vielleicht mal melden? Hab deine Mailaddy gesucht aber nicht gefunden und ich suche noch Leute für ein Bloggerprojekt!

    Lieber Gruss
    Carlin
    inelinja@gmail.com

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  6. Hallo Karola, danke für diesen interessanten Beitrag. Ich habe mal wieder was dazugelernt.
    Liebe Grüße Helga

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  7. Wahnsinn....! Egain what lörnd" sagt der Frange... is ja wohl der Hammer. Hab ich noch nie gesehen, gehört, gelesen - und Gott sei Dank noch nie mit dem MTB in den Frankenwaldtälern "überfahren" - ich muss mich Carlin anschließen - fazinierend, aber voll widerlich ;-)))). Danke !
    An_Geli_Ka

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  8. Hallo Karola :)

    sehr, sehr interessanter Beitrag von Dir. Ehrlich gesagt, davon hatte ich zuvor noch nie etwas gehört und wissentlich gesehen habe ich es auch noch nicht, scheint ein eher seltenes Phänomen zu sein ^^

    Und ja, ich habe bis zum Ende gelesen und mir auch das Video angeschaut - neugierig wie ich bin ;)

    Lieben Gruß
    Björn :)

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  9. Das Phänomen, das Du hier beschreibst, finde ich, wenn auch nicht hübsch... so doch irgendwie unglaublich. Deine Recherche ist wirklich gründlich, umfassend und sehr lehrreich. Danke dafür

    LG Gitta

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  10. Wow, vielen, vielen Dank für diesen Beitrag.
    Ich habe vor Jahren im Bayerischen Wald eine solche Wanderung gesehen. Leider habe ich damals nicht herausgefunden, um welche Larven es sich handelte.
    Aber jetzt weiß ich es! Vielen Dank dafür.

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  11. Zu Ende gelesen... Spannend. Danke fürs Schlauerwerden.
    LG Julia

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  12. Ich bin immer wieder erstaunt, was es alles so in der Natur gibt.
    Vielen Dank für deine Beobachtungen und Dokumentation dieses Naturphänomens.
    l.G. Jutta

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Vielen Dank, dass ihr eure Gedanken und Meinungen mit mir teilt!